redaktioneller Beitrag von Klaus Leitzbach 15. September 2016
Wilfried Härle und Thomas Fuchs vor Beginn der Veranstaltung - Alle Fotos: © frankfurtmedien.de / Klaus Leitzbach
Auszug aus dem Flyer zur Veranstaltung
Der Welt-Alzheimertag 2016 (21. September) war am heutigen Donnerstag Anlass für eine Veranstaltung der Alzheimer Gesellschaft Frankfurt im Haus am Dom.
Den Besuchern wurde während eines fünfstündigen Programms von 16 bis 21 Uhr
eine interessante Mischung aus Infoveranstaltung, Diskussion und Film geboten.
Nach einer kurzen Einführungsrede von Johannes Lorenz vom Haus am Dom, skizzierte
Erhard Thiel (1. Vorsitzende der Alzheimer Gesellschaft Frankfurt) die vielfältigen Angebote
seiner Organisation zur Unterstützung Betroffener.
Allein in Frankfurt leben derzeit etwa 13.000 Menschen mit Demenz.
"Die Alzheimer Gesellschaft Frankfurt gilt als verlässlicher Partner und unterstützt Demenzkranke
und Angehörige durch ein umfangreiches Hilfsprogramm, so Thiel.
Mit den beiden Heidelberger Professoren Wilfried Härle und Thomas Fuchs hatten die Initiatoren
zwei hochkarätige Experten auf dem Gebiet der Demenz nach Frankfurt geholt.
Sie führten die weit über 100 Besucher durch eine medizinische, philosophische und ethische Betrachtung zum Umgang mit Demenz.
Dabei sprachen beide aus unterschiedlichen Ansätzen zum Thema: Vom Bleiben der Person -
was von einer Person bleibt, wenn sie an Alzheimer erkrankt.
Der Heidelberger Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs stellt die aus der philosophischen Tradition abgeleitete Verknüpfung des Personenbegriffs mit Rationalität und Geist in Frage.
Thomas Fuchs setzt der traditionellen Anschauung das Konzept der Leibphänomenologie entgegen.
Die leibliche Resonanz vermittelt einem Menschen mit Demenz die emotionale Wahrnehmung seiner Umwelt und lässt ihn über seine Emotionalität eine grundlegende Orientierung erfahren.
Thomas Fuchs
Fuchs zitiert in seiner Rede den einflussreichen englischen Philosophen und Vordenker
der Aufklärung des 17. Jahrhunderts John Locke mit den Worten:
„Was Schwierigkeiten zu bereiten scheint, ist die Tatsache, dass dieses Bewusstsein stets durch Zustände des Vergessens unterbrochen wird. (…) In allen diesen Fällen, in denen unser Bewusstsein unterbrochen wird und wir unser vergangenes Ich aus den Augen verlieren, erheben sich Zweifel,
ob wir dasselbe denkende Ding, das heißt dieselbe Substanz sind oder nicht.“
Unter dem Begriff "Leibgedächtnis" spricht Fuchs über den fortschreitenden Verlust des expliziten Gedächtnisses als eines der
frühesten und markantesten Symptome der Alzheimer-Erkrankung und weist darauf hin, das im Gegensatz dazu weite Bereiche des impliziten Gedächtnisses noch in späten Stadien der Erkrankung
unbeeinträchtigt sind.
So bleibt etwa der Umgang mit Gegenständen (Besteck, Zahnbürste o.ä.) noch lange möglich,
auch wenn ihr Name und ihre Funktion nicht mehr benannt werden können. Ebenso zugänglich bleiben spezifisch persönliche Anteile des impliziten Gedächtnisses - vertraute Umgebungen, Stimmen, Melodien, Gerüche - und wecken nicht nur entsprechende Emotionen, sondern oft noch zugehörige autobiographische Erinnerungen, die sich sonst dem unmittelbaren Zugriff entziehen.
Die gewohnten Schemata des leiblichen "Zur-Welt-Seins" stellen Elemente der Sicherheit und Unterstützung für den Demenzkranken dar. Sie bestätigt zu finden, fördert sein Selbstvertrauen in seine verbleibenden Fähigkeiten.
Fuchs plädiert deshalb für eine Aufrechterhaltung der Betreuung und Pflege in einer passenden räumlichen Umgebung, möglichst natürlich in der eigenen Wohnung. Aber auch in Pflegeheimen lassen sich persönliche Wohnräume schaffen, die eine Atmosphäre der Geborgenheit vermitteln, denn die Zentrierung in der Wohnung und in der Gewohnheit befreit Demenzkranke von der Notwendigkeit, sich ständig neu orientieren zu müssen, so Fuchs.
Auch gilt es Gefühle und Fähigkeiten zu wecken, die mit vergangenen Lebensabschnitten verknüpft sind, auch wenn die Erinnerung daran schon verblasst ist.
Er veranschaulicht seine Worte durch ein Beispiel:
Ein 78-jähriger Patient mit fortgeschrittener Demenz vermochte seine Verwandten nicht mehr
wieder zu erkennen. Er wirkte lethargisch, zurückgezogen, körperlich hinfällig und war kaum noch
in der Lage, sich selbstständig fortzubewegen. Eines Tages besuchten ihn seine beiden Enkelkinder und spielten vor dem Haus Fußball. Der Patient hatte als Jugendlicher selbst lange in einem Verein gespielt, nun stand er plötzlich auf und spielte mit den beiden Jungen. Im Kontakt mit dem Ball erschien er wie verwandelt und verjüngt, er zeigte ihnen seine Dribbelkünste, demonstrierte verschiedene Balltricks und gab dazu fachmännische Erklärungen.
Für eine halbe Stunde war von der Erkrankung nichts mehr zu erkennen.
Professor Wilfried Härle beschreibt die relationale Betrachtung des Menschen mit Demenz.
"In Bezug auf etwas außerhalb seiner selbst ist er eine Person". Dieses Verständnis des Menschen verliert auch im Blick auf Menschen mit Demenz nicht an Bedeutung und beinhaltet auch ethische Konsequenzen, so Härle.
Härle erwähnt, dass nicht nur der unmittelbar betroffene Mensch in einer solchen Situation leidet, sondern auch die Menschen, die ihm nahestehen und ihn begleiten.
Wilfried Härle
Es ist also ein mehrfaches Leiden. Einmal das Leiden an einer Unsicherheit:
Ich weiß nicht, wie es dem Anderen wirklich geht. Ich kann alles Mögliche hören, sehen, vergleichen (wie war es vor einer Woche, wie war es früher, wie war es schon immer), aber ich habe nicht die Möglichkeit, in den Betroffenen hineinzusehen.
Das zweite, was dazu kommt, ist diese schreckliche Hilflosigkeit. Ich sitze daneben, als Angehöriger, Arzt, Krankenschwester, möchte helfen und kann es nicht.
Und dann erlebe ich vielleicht noch den Appell: "Hilf mir doch!"
Und ich komme immer wieder hin und merke, dass sich die Situation nicht bessert.
Ein Leidensdruck entsteht und eine Unsicherheitssituation, aus der man am liebsten fliehen möchte.
Dieses Verständnis des Menschen verliert auch im Blick auf Menschen mit Demenz nicht an Bedeutung.
Wilfried Härle
Ein hochrangiger Palliativmediziner hat einmal in einem Vortrag bekannt, dass er bei den wenigen Patienten, bei denen er Schmerzen nicht in den Griff bekomme, den Impuls verspüre, bei der Visite am Zimmer vorbei zu gehen.
Er habe aber diesem Impuls widerstanden, sie hineingegangen und habe der Patientin gesagt:
"Es tut mir so leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann!" Und da habe die Frau ihm ihre Hand auf den Arm gelegt und gesagt: "Aber Herr Professor, sie helfen mir doch. Sie kommen jeden Tag zur Visite."
Daran hatte er überhaupt nicht gedacht, dass die Tatsache, dass er nicht vom Krankenbett geflohen war, sondern mit seinen begrenzten medizinischen Möglichkeiten die Situation ausgehalten hat, dadurch also, dass er die Patientin nicht im Stich gelassen hat, für die Frau ungeheuer tröstlich war.
Dieses für den anderen "Da-sein" wird in seiner Bedeutung oft unterschätzt, so Härle.
v.l.n.r. Filmjournalist Wagner und Sozialwissenschaftler Beck © frankfurtmedien.de / Klaus Leitzbach
Im Anschluss an die beiden Referenten gab es eine anregende Diskussion, wobei sich einige Diskussionsteilnehmer zur thematischen Einschätzung der beiden Referenten
konträr äußerten.
Nach einer kleinen Pause bei Imbiss und Getränken führte Filmjournalist Günther Wagner
in den Film "Still Alice" ein, den er als Visualisierung unser aller Angst vor der Krankheit Alzheimer bezeichnete.
Der Film aus dem Jahr 2014 zeigt was mit einem Menschen geschieht der plötzlich bemerkt, dass mit seinem Gedächtnis etwas nicht stimmt.
Die an Alzheimer erkrankte Alice Howland,
wird von Julianne Moore, beeindruckend und authentisch verkörpert, wofür sie als beste Hauptdarstellerin 2015 mit einem Oscar ausgezeichnet wurde.
Obwohl der Film keine Dokumentation ist, zeigt er doch wie schwierig es ist, sich die Erkrankung einzugestehen, ärztlichen Rat zu suchen und die Diagnose und die
Folgen der Demenz zu aktzeptieren.
Außerdem thematisiert der Film wie sich Demenz auf das soziale Umfeld auswirken kann.
Im Flyer zum Programm heißt es: "Wenn Menschen bemerken, dass mit ihrem Gedächtnis
etwas nicht stimmt, sind sie existentiell erschüttert. Es ist wichtig, ihnen und uns zu zeigen,
dass der Mensch mehr ist als sein Erinnerungsapparat."
Sowohl der Film als auch die übrigen Programminhalte haben deutlich gemacht:
Eine Person wird nicht nur durch den Geist definiert, sondern auch durch ihren Leib und ihre Bezogenheit auf andere Menschen.
Die diesjährige Veranstaltung der Alzheimer Gesellschaft Frankfurt zum Welt-Alzheimertag hat einen wichtigen Beitrag geleistet, die Öffentlichkeit auf die Situation der Menschen mit Demenz und ihrer Angehörigen aufmerksam zu machen. (kl)